„Ich will mich nicht fühlen wie ein Rentner auf Mallorca“
„Ich werde da sein - und ich freue mich schon darauf.“ Jan Zahradil zählt bekanntermassen nicht zu denen, die Konflikte scheuen.
„Ich werde da sein - und ich freue mich schon darauf.“Jan Zahradil zählt bekanntermassen nicht zu denen, die Konflikte scheuen. Im Gegenteil. Seit mehreren Jahren schon verteidigt der ODS-Politiker die tschechischen nationalen Interessen unmittelbar dort, wo er sie am meisten bedroht sieht: in der EU, genauer gesagt im Europaparlament. Niemand war daher überrascht, als Zahradil vor einigen Wochen in der „Lidove noviny“ verkündete, sich auch dieses Mal wieder in den Kampf stürzen zu wollen: Der Ausschuss für Bürgerfreiheiten, Justiz und Inneres, in dem Zahradil eigentlich „nur“ den Status eines Stellvertreters innehat, wollte sich auf Betreiben seiner ungarischen Mitglieder mit dem Thema „Diskriminierung nationaler Minderheiten in EU-Mitgliedstaaten“ beschäftigen. Doch angesichts der Eiszeit, die zwischen der Slowakei und Ungarn ausgebrochen ist, seit das slowakische Parlament im September die „Unantastbarkeit der Beneš-Dekrete“ beschlossen hat, war tschechischen Beobachtern sofort klar: Hier würden unweigerlich auch jene Fragen wieder auf den Tisch kommen, von denen Prag gehofft hatte, dass sie mit dem EU-Beitritt ein für alle mal erledigt seien.
Zum Verteidiger von Beneš und der Nation musste sich Zahradil schliesslich zwar doch nicht aufschwingen, da die Debatte im Ausschuss tatsächlich vor allem um die Lage der Ungarn in der Slowakei kreiste. Doch die reflexhafte Gereiztheit, mit der nicht nur Jan Zahradil sondern zum Staatsfeiertag Ende Oktober auch Präsident Vaclav Klaus auf das Thema „Beneš-Dekrete“ reagiert haben, zeigt, dass die Krise zwischen Budapešť und Bratislava sowie deren Behandlung im Europaparlament auch aus tschechischer Perspektive eine ganze Reihe von Fragen aufwirft: Steht zu befürchten, dass sich die Sudetendeutschen oder gar die bayerische Staatsregierung mit den Ungarn verbünden, um Prag und Bratislava mit vereinten Kräften zu Zugeständnissen zu zwingen? Werden die Beneš-Dekrete schon bald auch von der CSU wieder auf die europäische Tagesordnung gesetzt? Und was genau müsste Tschechien eigentlich tun, um die Sudetendeutschen ein für alle Mal zufriedenzustellen?
Die beiden Krisen des Bernd P.
„Die Tatsache, dass die Beneš-Dekrete jetzt wieder Thema im Europaparlament geworden sind, zeigt nur, dass man dieses Problem lösen muss – sonst kommt es immer wieder.“ Wer sich mit Fragen des deutsch-tschechischen Verhältnisses befasst, kommt an Bernd Posselt nicht vorbei. Seit acht Jahren steht der 51-Jährige als Vorsitzender an der Spitze der Sudetendeutschen Landsmannschaft, der grössten Organisation der Sudetendeutschen – und in dieser Funktion stellt er für die bayerische Landesregierung den wichtigsten Partner bei der Formulierung ihrer Tschechienpolitik dar. Den guten Draht zum bayerischen Ministerpräsidenten garantiert der Landsmannschaft nicht nur die berühmte bayerische Schirmherrschaft für die Sudetendeutschen, sondern auch das Parteibuch der CSU: Johann Böhm, der heutige Sprecher der Landsmannschaft, war in den neunziger Jahren Leiter der bayerischen Staatskanzlei und bis 2003 Präsident des bayerischen Landtags. Bernd Posselt selbst hat über die Landesliste der CSU einen Sitz im Europaparlament errungen. Wer wissen will, wohin die bayerische Politik gegenüber Tschechien steuert, tut also gut daran, sich in das schlichte Büro unweit des Münchner Hauptbahnhofs zu begeben, in dem Posselt seine Besucher empfängt. Auch wenn sich dort erst einmal herausstellt, dass die Frage, was „die Sudetendeutschen“ von Tschechien eigentlich erwarten, sehr viel schwieriger zu beantworten ist als es zunächst den Anschein hat.
„Ein echter Konsens besteht zwischen den Sudetendeutschen nur über drei zentrale Punkte“, sagt Bernd Posselt. „Erstens: Die Beneš-Dekrete stellen eine Menschenrechtsverletzung dar. Zweitens: Die Vertreibung der Deutschen ist klar zu verurteilen. Drittens: Die kulturelle Identität der Sudetendeutschen muss erhalten bleiben.“ Welche praktischen Folgen, welche politischen Forderungen oder Wünsche aus diesen Grundüberzeugungen abzuleiten sind – darüber sind sich die Sudetendeutschen jedoch alles andere als einig. Und so kommt es nicht nur innerhalb der Landsmannschaft immer wieder zu Auseinandersetzungen über den richtigen Kurs. Auch zwischen der Landsmannschaft und anderen sudetendeutschen Organisationen tun sich in konkreten Fragen bisweilen tiefe Abgründe auf: „Während meiner Amtszeit bin ich bisher zweimal mit echten Rücktrittsforderungen konfrontiert worden“, sagt Posselt. „Das eine Mal war, als ich gesagt habe, dass ich auf das Eigentum meiner Eltern in Jablonec verzichte. Das zweite Mal war, als ich mich im tschechischen Fernsehen offiziell für den Anteil der Sudetendeutschen am Nationalsozialismus entschuldigt habe.“ Nach beiden Äusserungen habe ihn eine Flut von Briefen aus Tschechien und aus Deutschland erreicht, erzählt Posselt. Denn tatsächlich sind es vor allem die Fragen nach einer Entschädigung, nach der Gewichtung der historischen Schuld, sowie die Beurteilung der aktuellen tschechischen Debatte über die eigene Geschichte, die die Sudetendeutschen spalten.
Das rechte Spektrum bewegt sich
Am “rechten“ Rand des Meinungsspektrums steht seit 1950 der „Witikobund“. Gegründet von ehemaligen aktiven Mitgliedern der NSDAP und der Sudetendeutschen Partei Konrád Henleins, soll der wie ein Geheimbund organisierte Verein heute rund 1000 Mitglieder haben, die sich als „nationale Gesinnungsgemeinschaft der Sudetendeutschen“ definieren. Bis 1967 wurde der Witiokobund vom Innenministerium als „rechtsextremistisch“ eingestuft. Ende 2001 teilte die Bundesregierung erneut mit, es gebe Indizien dafür, dass der Witikobund rechtsextremistische Bestrebungen habe, die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg relativiere und antisemitische Äusserungen verbreite. Horst Rudolf Übelacker, bis 2006 Vorsitzender des Vereins, forderte über Jahre nicht nur eine Rückgabe sudetendeutschen Eigentums und ein „kollektives Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen“, sondern auch eine Aufhebung der Beneš-Dekrete als Vorbedingung für einen tschechischen EU-Beitritt. Direkte Gespräche mit tschechischen Vertretern lehnte Übelacker dabei ab. Sein Nachfolger Hans Mirtes, ein pensionierter Lehrer, der 1940 in Stříbro geboren wurde, will die Organisation nach eigenen Worten nun jedoch auf einen weniger radikalen und versönlicheren Kurs gegenüber Tschechien bringen.
„Man muss miteinander reden“, sagt Mirtes. „Wir müssen einander zuhören und uns auch in das Leid der anderen Seite hineinversetzen.“ Den Witikobund aus der „rechten Ecke“ herauszuführen sei „ein Prozess. Aber auch unsere nationalkonservativen Mitglieder müssen die Verbrechen, die von deutscher Seite begangen wurden, endlich klar verurteilen, da muss Sühne geleistet werden.“ Die Bereitschaft zum Gespräch erwartet Mirtes allerdings auch von der tschechischen Seite: „Die Beneš-Dekrete, die für die Vertreibung massgeblich waren, müssen für null und nichtig erklärt werden“, sagt er. „Die haben unsere Volksgruppe beraubt und entwürdigt.“ Doch mit einer blossen Aufhebung der Dekrete ist es für Mirtes nicht getan: „Man müsste schon über eine Entschädigung verhandeln“, sagt er. „Dabei ist uns klar, dass wir flexibel sein müssen und dass nicht jeder sein Haus zurückbekommt. Wir wollen den tschechischen Staat nicht ruinieren.“ Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, hat Mirtes 2004 zusammen mit 89 anderen Sudetendeutschen trotzdem eine Eigentumsklage vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Strassburg eingereicht - die Ende 2005 jedoch als unzulässig abgewiesen wurde. „Deshalb werden wir jetzt vor die UN-Menschenrechtskommission ziehen.“
Eine Geste für die deutsche Minderheit
Über solche Aktivitäten kann Matthias Dörr nur den Kopf schütteln. Der 31jährige Politikwissenschaftler ist Bundesgeschäftsführer der Ackermann-Gemeinde (AG), in der sich seit 1946 vor allem katholische Sudetendeutsche organisieren. Schon 1985 verabschiedete die Ackermann-Gemeinde mit Katholiken aus der ČSSR eine „Gemeinsame Erklärung“, in der beide Seiten an das „jahrundertelange gemeinsame Kulturschaffen“ von Deutschen und Tschechen in Böhmen erinnerten und zu einem selbstkritischen Dialog im Geiste der Versöhnung aufriefen. Seit der Wende hat die AG nicht nur die regelmässig stattfindenden Regionalkonferenzen in Marienbad und Jihlava/Brno ins Leben gerufen, sondern auch eine mittlerweile unüberschaubare Zahl an Konferenzen, Jugendbegegenungen, Wallfahrten und Kulturveranstaltungen organisiert. „Für uns stehen Eigentumsfragen nicht im Raum“, sagt Matthias Dörr. „Wir empfehlen unseren Mitgliedern auch, im Interese einer Versöhnung auf ihr Eigentum zu verzichten.“ Die Beneš-Dekrete sind zwar auch für die Mitglieder der Ackermann-Gemeinde „nicht in Ordnung.“ Dennoch hält Dörr die ständige Debatte um die Dekrete fur kontraproduktiv: „Der Streit um die Beneš-Dekrete ist nur ein Ersatzthema für die Frage, wie sich die tschechische Politik und Gesellschaft zur Frage der Vertreibung allgemein stellt“, sagt er. „Da wir dabei derzeit keine Einigung erzielen können, wäre es besser, wir würden diese Frage erst einmal beiseite schieben und uns auf konkrete gemeinsame Projekte konzentrieren.“ Auf die vielen sudetendeutschen Kulturdenkmäler etwa, die im tschechischen Grenzland zu verfallen drohen. Oder die sehr schwierige Lage der Deutschen, die heute noch in Tschechien leben. „Diese Menschen leiden noch heute ganz konkret darunter, dass sie, nur weil sie Deutsche waren, weniger verdient haben oder ihnen formele Qualifikationen aberkannt wurden“ sagt Dörr. „Deshalb erhalten sie heute teilweise sehr wenig Rente.“ Zu den Beneš-Dekreten könne man später immer noch zurückkommen. „Wenn klar ist, dass damit keinerlei Eigentumsforderungen verbunden sind.“
Ein Volk mit zwei Sprachen
Gerichtsverfahren einerseits, eine Abkehr von der Debatte um die Dekrete andererseits – angesichts des breiten Spektrums an unterschiedlichen Meinungen ist es für Bernd Posselt alles andere als einfach, „die Interessen der Sudetendeutschen“ zu vertreten. Mehr als einmal hat er innerhalb der Landsmannschaft hart für seine Positionen kämpfen müssen. Bei fast jeder Entscheidung ist klar, dass eine mehr oder weniger grosse Gruppe an Sudetendeutschen unzufrieden ist. Dass er und die übrigen CSU-Abgeordneten im Europaparlament im Apríl 2004 wegen der Beneš-Dekrete gegen den tschechischen EU-Beitritt gestimmt haben, hält Posselt selbst zum Beispiel noch heute für richtig, denn „eine Zustimmung hätte bedeutet, dass ich den den Beneš-Dekreten von Seiten der Landsmannschaft den Stempel der Gerechtigkeit zuerkennen – und das wollte ich einfach nicht.“ Matthias Dörr von der Ackermann-Gemeinde hingegen fand bereits 2004, dass das Votum ein „falsches Signal“ nach Tschechien sende.
Dass nach der ungarischen auch die deutsche Seite das Thema Beneš-Dekrete demnächst wieder auf die Tagesordnung des Europa-Parlaments hievt, ist jedenfalls nicht zu erwarten. Weder in der bayerischen Regierung noch in den sudetendeutschen Organisationen verspricht man sich viel davon, die EU zur Lösung der deutsch-tschechischen Meinungsverschiedenheiten heranzuziehen.
„Obwohl wir im Hinblick auf die Beneš-Dekrete derselben Meinung sind wie die Ungarn, ist der Konflikt zwischen Budapest und Bratislava wegen der grossen ungarischen Minderheit in der Südslowakei völlig anders gelagert als der zwischen Deutschland und Tschechien“, meint Bernd Posselt. „Wir versuchen, unsere engen Kontakte zu den konservativen Parteien in Österreich und Ungarn dazu zu nutzen, in diesem Konflikt zu vermitteln. Aber Deutsche und Tschechen sollten einander nicht mit dem Lehrer in Strassburg drohen.“ Erfolgversprechender als Streit in Strassburg sei etwa die „Fussballdiplomatie“, im Rahmen derer der neue bayerische Ministerpräsident Günter Beckstein vor dem Qualifikationsspiel Deutschland-Tschechien im Oktober in München eine Stunde lang ganz informell mit Mirek Topolanek gesprochen habe. „Was wir brauchen, ist eine breite innertschechische Debatte über die Vertreibung und dazu müssen wir zunächst einmal Vertrauen schaffen“, sagt Bernd Posselt. Denn das, was sich fast alle Sudetendeutschen ganz unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Organisation oder Partei wünschen, lässt sich ohnehin nicht einfordern, nicht vor Gericht erstreiten, ja nicht einmal mit Waffengewalt erzwingen: „Was ich mir wünsche?“, formuliert es etwa Hans Mirtes. „Dass die tschechische Regierung uns einlädt zurückzukommen, dass sie zu uns sagt: Auch ihr Sudetendeutschen gehört hierher nach Böhmen.“ Dass nach dem tschechischen EU-Beitritt ohnehin jeder, der in Tschechien leben will, einfach nach Böhmen ziehen kann, ist aus suedentendeutscher perspektiuve kein Ersatz „Ich will mich nicht fühlen wie ein deutscher Rentner, der seinen Lebensabend auf Mallorca verbringt“, sagt Bernd Posselt. „Was wir uns wünschen, ist, dass die Tschechen die Gemeinschaft mit uns Sudetendeutschen erneuern. Denn meiner Meinung nach gibt es gar keinen Unterschied zwischen Tschechen und Sudetendeutschen. Es gibt nur ein böhmisches Volk mit zwei Sprachgemeinschaften.“
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