Pozadí astronaut Brázda
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Dreihundert Näherinnen aus Jeseník

Eine Reportage aus dem Ort, wo eine Textilfabrik Pleite gegangen ist

  • Autor: Respekt
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Die Pforte ist sorgfältig verkettet, der grosse Parkplatz steht leer und auch hinter den Fenstern ist niemand zu sehen - nur in den Hallen stehen Reihen von verlassenen Maschinen und an den Gerüsten hängt halbfertige Kleidung. So sieht heute die Filiale der berühmten Textilfabrik „OP Prostĕjov“ im nordmährischen Jeseník aus. Das Unternehmen, das während des Kommunismus einen Grossteil der damaligen Tschechoslowakei mit seinen Produkten einkleidete, ist nun wegen grossen Verlusten Bankrott gegangen; in seiner Manufaktur im Gebirgsstädtchen verloren Anfangs Mai von einem Tag auf den anderen fast dreihundert Leute ihre Arbeit. Dies stellt in einem Gebiet mit mehr als 19 Prozent Arbeitslosigkeit zweifelsohne ein existentielles Drama dar.

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Es ist zu Ende

Und auf dieses Drama stößt man direkt hinter der Schranke zum Fabrikareal: „Es ist eine totale Katastrophe, ich will gar nicht darüber reden, dies war doch mein ganzes Leben“, sagt eine wohl etwa fünfzigjährige weinende Frau im roten Mantel, die gerade mit dem ausgefüllten Entlassungsschein in der Hand weg geht. Auch ihre Kolleginnen sehen den schicksalsreichen Montag des dritten Mai nicht anders. „Stellen Sie sich vor, dass diese Leute vielleicht vierzig Jahre lang hier beschäftigt waren, Arbeit gab es nicht nur für alleinerziehende Mütter, sondern auch für Invalide oder für Leute kurz vor der Rente“, sagt die Buchhalterin Alena Palečková. Sie selbst bleibt noch einige Monate als letzte und einzige Angestellte der Zweigstelle, um alle nötigen Geschäfte der Firma in Ordnung zu bringen. Und neben der Tür hängt jetzt auch einer ihrer traurigen Überbleibsel: eine lange Liste der entlassenen Angestellten, mit Adressen vermutlich aus allen Dörfern der ganzen Region. „Diese Leute fanden hier schlicht keinen anderen Job, kamen von weit her und schätzen die Arbeit in der Textilfabrik sehr“, so Palečková.

Für die Entlassenen gibt es letztendlich ein doppeltes Problem. In der Fabrik arbeiteten vor allem Frauen, ihr „Schneider“-Beruf wird heute kaum noch in Anspruch genommen. „Es ist ein schreckliches Gefühl, gleichzeitig zu wissen, dass dies das Ende ist. Keiner mehr hat ein Interesse an einem, man ist alt und überflüssig. Damit kann man sich nur schwer abfinden“, so die Buchhalterin. Sie selbst sei jedoch in genau derselben Lage: nach drei Monaten wird in Richtung Arbeitsamt gehen. „Ich bin 57 Jahre alt und gehe wahrscheinlich in Frührente. Zum Glück habe ich einen Ehemann, ein eigenes Haus und die Kinder sind schon erwachsen. Ich bezweifle, dass ich in meinem Alter noch etwas finde. Ich suche zwar ständig und telefoniere herum, doch bis jetzt ohne Erfolg.“

Eine andere Zeit

Tiefe Wälder, mächtige Hügel, Flüsse mit klarem Wasser, frische Bergluft, Dörfchen mit gezimmerten Häuschen – so der Weg zur Zwanzigtausendseelenstadt Jeseník. Die Stadt liegt tief in den Bergen praktisch auf Sichtweite von der polnischen Grenze, die Abgeschiedenheit von den grössten Landeszentren bestimmte ihre Entwicklung: Die Leute machten sich hier vor allem mit der Holzindustrie ein Leben, eine Zeit lang wurde auch Gold geschürft. Traurig berühmt gemacht haben die Region die Hexeninquisitionen mit einem Hundert Verbrannten im 17. Jahrhundert, später kam die Stadt durch ihren Landsmann Vincenc Priessnitz, der Erfinder der modernen Hydrotherapie, zu Ruhm. Zur Liste der örtlichen Jobressourcen kamen dank ihm die hiesigen berühmten Heilbäder, später auch der Erzbau (welcher nach der Wende eingestellt wurde) und die Textilindustrie. Die Jeseníker Filiale der Prostĕjover Textilfabrik hatte einen täglichen Ausstoss von beispielsweise 600 Sakkos und 400 Hosen. Nur hat dies nicht zur Erhaltung der Fabrik gereicht. Der Monopolkoloss hatte nach jahrzehntelanger Produktion von uniformer sozialistischer Bekleidung mit dem neuen Management kein Glück, der Übergang in ein neues Zeitalter wurde verschlafen.

Ein qualvolles Leben

„Ich stehe total unter Schock“, sagt ein weiteres Opfer des örtlichen Bankrotts, die gelernte Näherin Hana Klimšová, die seit ihrer Ausbildung im Jahre 1986 in der Fabrik gearbeitet hat. Heute ist sie 42 Jahre alt, wegen Hüftproblemen kann sie nur im Sitzen arbeiten. „Diese Arbeit hat mir sehr gefallen, ich habe Teile auf die Sakkos aufgenäht“, sagt sie. In der Textilfabrik bekam sie für die Herstellung von täglich dreihundert Ärmeln 9500 Kronen (ca. 370 Euro) brutto. „Sie sehen, viel ist das natürlich nicht, doch wir haben gelernt, davon zu leben, wir kaufen billige Produkte und schauen uns in Supermärkten nach Waren im Angebot um“, schildert die neue Klientin des Jeseníker Arbeitsamtes. „Mein Mann hat eine ähnliche Erfahrung hinter sich“, erzählt Hana Klimšová. Ihr Mann hat nach längerer Arbeitslosigkeit eine Umschulung absolviert und arbeitet jetzt unter der Woche als Lehrmeister an einer Berufsschule im fernen Ostrava. „Es ist halt einfach so und wir müssen uns damit abfinden“, so Klimšová. „Auch auf mich kommt dies bald zu, denn wir haben bei der Bank einen Kredit über 400 Tausend Kronen für die Renovierung unseres Hauses aufgenommen, den zahlen wir jetzt im zweiten Jahr ab.“ Mit Rückzahlungen wird es das Ehepaar nicht einfach haben: als Arbeitslose wird die Frau Anspruch auf eine fünfmonatige Unterstützung in durchschnittlicher Höhe von etwa fünftausend Kronen monatlich haben.

  • Autor: Respekt
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Es ist überhaupt nicht einfach, heute noch weitere entlassene Frauen in den Strassen der Stadt zu finden. Einige wollen nichts über sich verraten, andere haben Angst, irgendetwas über ihre Entlassung zu sagen: für den Fall, dass der Betrieb sich erholt und sie zurücknimmt.

„Gehen Sie weg, ich will nichts sagen. Ich habe dazu einfach keine Kraft“,

sagt die braunhaarige Frau hinter den Vorhängen im ersten Stock des Mietshauses genau gegenüber des örtlichen Penny Markets.

Und es ist eigentlich kein Wunder: Laut der örtlichen Bevölkerung, unter ihnen viele Kenner der Arbeitslosigkeit (einige haben dies in den letzten paar Jahren sogar fünfmal erlebt), sitzen die entlassenen Leute zu Hause, gehen am liebsten überhaupt nicht raus und fragen sich ständig, warum ausgerechnet ich?! Und bisweilen können sie auch in Panik geraten. „Zuerst suchet man einfach an sich irgendwelche Fehler und beginnt sich vorzuwerfen, wie wollüstig man gelebt hat und für welche Überflüssigkeiten man Geld aus dem Fenster geworfen hat. Damit kommt das Gefühl des Schams und des Versagens und ständig grübelt man darüber, wie es weitergehen wird“, beschreibt eine kleinere schwarzhaarige Frau mit Einkaufstaschen die Gefühle eines entlassenen Menschen. Sie heisst Helena Demeterová, ist in ihren Sechzigern und das qualvolle Leben der Arbeitslosen kenne sie sehr gut. Nach Jahren ohne Arbeit und auf Sozialleistungen angewiesen, hat sie eine Stelle als Putzfrau in Österreich gefunden. „Man pilgert einfach der Arbeit nach, eine andere Wahl hat man gar nicht. Ich bin nur wegen meiner kranken Mutter zurückgekehrt, sonst wäre ich geblieben. Dort war ich glücklich, und hier werde ich keine Arbeit finden, egal wie sehr ich mich darum bemühe“, sagt sie.

Umschulung reicht nicht

Und so reihen sich die 286 betroffenen Näherinnen in die 19 Prozent der örtlichen Langzeitarbeitslosen ein. Doch auch die beschäftigten Glückspilze haben nicht allzu viel Grund zum Jubeln: wegen des Überhangs an Arbeitsnachfrage über dem Angebot sank der Durchschnittslohn im Gebiet Jeseník auf den tiefsten Wert der ganzen Tschechischen Republik - etwas zwischen fünfzehn und siebzehn Tausend Kronen. Langsam aber sicher vermindert sich auch die Anzahl der hiesigen Bevölkerung - junge Leute kehren nach Abschluss von Schulen etwa aus Brünn oder Prag nicht in ihre Heimat zurück, und auch ältere Leute beginnen häufiger ihren Job außerhalb der Stadt und der Region zu suchen. Im Bezug auf die Steuern bedeutete dies für Jeseník bereits einen Verlust von 22 Millionen Kronen.

  • Autor: Respekt
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Doch es gibt hier auch einen eigenartigen Zwiespalt: einerseits eine luxuriös renovierte Stadt mit einer Reihe moderner Läden, andererseits tiefe Löhne und Arbeitsnot.

„Ja, wir haben mit Hilfe des Staats und der EU den Rathausmarkt ausgebessert, doch für die Arbeitslosen können wir als Gemeinde nicht viel tun, wir erzeugen nicht massenhaft Arbeitsplätze“,

so der Bürgermeister

Petr Procházka

, den der Fall des Betriebs natürlich neue Falten bereitet hat - das sowieso schon ziemlich schlechte„Beschäftigungsklima“ verschlimmert sich, die Lust auf unternehmerische Tätigkeit sinkt.

Schuld an aller Not der Region ist laut dem Bürgermeister vor allem ihre schlechte Erreichbarkeit. „Auch wenn es schon gelungen ist, unsere Hauptverkehrsader wenigstens teilweise zu erneuern, sind die örtlichen Verkehrmöglichkeiten immer noch auf einem schlechtem Niveau. Über den Bergkamm führt nur eine schmale Strasse zu uns und im Winter schafft es wegen Schnee so gut wie niemand zu uns. Wir befinden uns so in einer gewissen Isolation“, sagt Petr Procházka. Die Situation könnte ihm zufolge Tourismus retten: mehr Touristen bringen mehr Arbeitsplätze mit sich.

„Wir tun was wir können, wir führen eine ganze Reihe Umschulungskurse an“, fügt der Chef des örtlichen Arbeitsamts Martin Viterna seine Sichtweise an. Doch dies reicht offensichtlich nicht: einige Leute hier haben schon die dritte Umschulung hinter sich, beispielsweise als Verwaltungsangestellter, Verkäuferin, Landschaftsgärtner oder Kranführer. Das Angebot dieser paar Dutzend freien Arbeitsplätze reicht jedoch nicht, und zudem - in der Region Jeseník werden primär Krankenschwestern, Rechtsanwälte und Ärzte gesucht.

Im Wiederaufleben

Die örtliche Bevölkerung sieht den Handlungsspielraum primär beim Staat. Zum Beispiel, dass er mit jährlichen Steuerentlastungen oder mit Sozialleistungen neue Unternehmer unterstützen könnte oder dass eine neue Strasse in die Stadt gebaut würde, welche lukrative Auto- oder Fernsehindustrie anziehen würde. Helfen könnte der Staat auch bei der Unterstützung des Wohnungsbaus, welcher neue Leute in die Region bringen oder wenigstens die jetzige Bevölkerung erhalten würde. „Ansonsten können wir hier alle langsam einpacken“, sagt der Verkäufer des örtlichen
Elektronikgeschäfts.

Und auch wenn laut dem Bürgermeister Procházka die Stadt, beziehungsweise die Region, vom Staat und von europäischen Unterstützungsfonds Hunderte Millionen Kronen für seine Entwicklung erhalten hat, gehört sie wegen der momentanen Krise zu den notleidendsten Orten in Tschechien. Die Daten aus dem Ministerium für Regionalentwicklung sprechen klar: ein niedriger Lebensstandard, eine kleine Bevölkerungsdichte und überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit.

In ähnlichen Gebieten - dazu gehören ausser Jeseník zum Beispiel Sokolov, Most oder Třebíč - lebt heute ein Drittel der tschechischen Bevölkerung. Anfang des Jahres hat das Ministerium deshalb ein spezielles Programm zu ihrer Unterstützung ausgerufen und dafür 50 Millionen Kronen eingerechnet. „Die Möglichkeiten unseres Amts sind leider durch den Kostenplan begrenzt“, so der Sprecher des Ministeriums Martin Ayrer,„aber wir werden irgendeine Reserve suchen. Gleichzeitig wägen wir auch die Variante ab, direkt bei der Regierung weitere Gelder zu verlangen.“

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