
Moskau gehört nicht zur G 8. Dennoch lächelt heute Vladimir Putin hinter dem Präsidiumstisch auf der Sitzung des elitären Klubs in Petersburg. Russland gibt überdies mit jeder Geste zu verstehen, dass der Westen das Land nicht mehr interessiert, es im Weiteren seinen eigenen Weg einschlägt. Und trotzdem erlaubt sich niemand, das Land aus der Gruppe der reichsten Demokratien hinauszukomplimentieren. Dafür ist Moskau einfach schon zu sattelfest. Das Putin-Russland entwickelte sich in einigen wenigen Jahren zu einem weiteren Machtzentrum, das dem Westen die lange Nase zeigt. Der russische Bär ist erwacht und machte sich schwankend in eine unbekannte Richtung auf.
Der mit den Hörnern aus dem Osten


Das in der Regel steinerne Gesicht von Vladimir Putin zeigt in diesen Tagen nur ein Lächeln. Kein Wunder. In Petersburg sitzt er einer Tagung solcher Staatschefs wie George Bush, Tony Blair, Angela Merkel oder Jacques Chirac vor. Mit gesundem Menschenverstand gesehen, hätte der russische Präsident keine bessere Visitenkarte gewinnen können – wenn er Gastgeber der G-8-Sitzung ist, muss er logischerweise Präsident einer der acht reichsten demokratischen Länder auf der Welt sein. Irrtum. Russland ist weder reich genug noch frei. Mit seinem Bruttoinlandsprodukt liegt es weltweit „erst“ auf dem sechzehnten Rang (die Chinesen sind sechste). Und Demokratie? In den letzten Jahren schränkt Putin die unabhängigen Medien ein, verhinderte die freie Wahl der Gebietsgouverneure, trieb Nichtregierungsorganisationen aus dem Land. Und die Menschenrechte? Erinnert sei nur an Tschetschenien oder den eingesperrten Jukos-Chef Michail Chodorkovský, und schon sollte man sich die Nase zuhalten. Das Britische Zentrum für Außenpolitik, ein anerkannter, den regierenden Liberalen nahe stehender Think-Tank veröffentlichte unlängst über die G-8-Mitgliedschaft Russlands eine detaillierte Studie und gelangte zu einem eindeutigen Schluss – Putin an der Spitze der G 8 ist in etwa so o.k. wie ein gehörnter Bock, der Frühmöhren umgräbt. Einfach eine Anomalie, wie es die britischen Politologen so schön formulieren.
Dass dies die westlichen Führungskräfte nicht wüssten? Warum laden sie z.B. nicht das reiche China oder das emporstrebende demokratische Spanien zu sich ein, dessen ehemaliger Premierchef Aznar den Beitritt zur G 8 als Traumziel seiner Außenpolitik ansah?
Die Antwort liegt im Charakter des Eliteklubs und vor allem im unsicheren Verhältnis des Westens zum verletzten, jetzt aber schnell wieder genesenden zotteligen Riesen im Osten. Die G 8 ist keine offizielle Organisation. Sie hat weder einen Sitz noch schriftlich festgehaltene und verabschiedete Regeln, wie beispielsweise die Europäische Union. Sie entstand als Verbund der reichsten Länder, vereint durch die Angst vor der ölkrise in den 70-iger Jahren und die können zu sich einladen, wen sie wollen. Die Russen gelangten auf Kredit in diesen Klub, und zwar Ende der 90-iger Jahre, in einer Zeit, als der Westen sehr von sich überzeugt war (die Rede war vom Ende der Geschichte in Form des definitiven Sieges der liberalen Demokratie) und als niemand auch nur einen Pfennig auf Russland gesetzt hätte. Umgekehrt bat die durch den Zerfall ihres Imperiums verstümmelte Großmacht, die mit einem todbringenden Kernwaffenarsenal und einer unzufriedenen, hungrigen Armee ausgestattet war, um Hilfe. Der Verfall Russlands ins Chaos oder der Antritt eines wahnsinnigen Diktators mit dem Atomkoffer in der Hand rief Entsetzen hervor. Moskau war ein verletzter armer Verwandter und der Westen suchte irgendwo nach einer Heilsalbe. Allein schon deshalb, um sich selbst vor den russischen Dämonen zu schützen.
Party für alle
Dies war unter der Regierung von Boris Jelcin. Damals war der Westen überzeugt, dass Moskau mit kleinen Schritten unaufhaltsam in seine Arme trippelt. Unter Jelcin war das zwar ein etwas trunkener Tanz – die Russen selbst würden wahrscheinlich von Anarchie, Armut, nicht ausgezahlten Löhnen und Renten und skandalös reichen Privatisierungsbetrügern sprechen, nichtsdestoweniger war ein Stück Wahrheit daran. Außenminister Kozyrev träumte von einer öffnung Russlands nach Westen, nach dem Zerfall der UdSSR führte das Land grundlegende wirtschaftliche und demokratische Reformen durch, rief Wahlen aus, liberalisierte die Preise, privatisierte, zog sich aus den Ländern Osteuropas zurück. Dafür bezahlte es einen hohen Preis - Absturz des Lebensniveaus, Narben am Nationalstolz, Verlust seiner Großmachtstellung. Der die Unordnung nicht beherrschende Präsident erfreute sich ganz bestimmt keiner besonderen Popularität. Und der Westen beobachtete alles von weitem und bemühte sich, Moskau auf irgendeine Weise ins Spiel zu bringen. Er gründete den Russland – NATO Rat, lud Moskau in den G 8 Klub (damals selbstverständlich noch G 7) ein, besorgte seine Mitgliedschaft im Europarat und schuf „gemeinsame Räume“ Russlands und der EU. Gleichzeitig aber mussten die Russen schmerzhafte Rippenstöße hinnehmen, wie vor allem die NATO-Erweiterung in Richtung Grenzen der ehemaligen UdSSR oder die Brautwerbung der ehemaligen sowjetischen Satelliten mit der Europäischen Union. Dies alles wurde von der Finanzhilfe abgedeckt, ohne die Russland nicht ausgekommen wäre, die ihm letztendlich aber doch nichts nutzte. 1998 kam der Wirtschaftskollaps und Russland lag am Boden.
Heute jedoch würde man den Bankrott gegangenen Riesen nicht wieder erkennen. Zum schlimmsten Zeitpunkt geschah nämlich ein Wunder: das öl wurde teurer. Um vieles teurer. Und an die Macht gelangte außerdem ein pragmatischer Manipulator, der ehemalige KGB-Offizier Vladimir Putin.
Putin muss ein Glückskind sein. Nach einer Studie der Weltbank bedeutet jede Erhöhung des Weltölpreises um einen Dollar pro Barrel ein Wachstum des russischen BIP um 0,34 %. 1998 kostete das öl 11 Dollar, heute sind es mehr als 75 Dollar. Außerdem verfügt Putins Apparat über die Geldflut mit unerwarteter makroökonomischer Bedachtsamkeit. Russland zahlte im Voraus seine gesamten Schulden zurück. Achtet auf die Inflation. Errichtete einen Konsolidierungsfonds – Ersparnisse für die Zeit, wenn der Energiepreis sinkt oder Erdöl und Gas zu Ende gehen – in dem heute ca. 77 Milliarden Dollar vorhanden sind. Langsam beginnen Investitionen nach Russland zu fließen. Und vor allem: die Party betrifft diesmal nicht nur eine enge Gruppe Auserwählter, die Gelder fließen – einige Kommentatoren sagen es direkt, strömen – durch die ganze Gesellschaft. Russland konnte sich noch nicht von der Armut befreien, aber die Mittelschicht erweitert sich nachweislich und die Reallöhne wachsen in zweistelligen Zahlen.
Kein Wunder, dass Putin 70% der Bevölkerung hinter sich hat. Russland ist außerdem ein Magnet für seine Umgebung – Massen an Einwanderern aus den um vieles ärmeren asiatischen Regionen strömen hierher. Das Russland des Jahres 2006 ist wieder ein selbstbewusstes Land, das den Westen nicht braucht, nicht die beste Meinung von ihm hat und sich ganz bestimmt nicht von ihm darüber belehren lässt, wie es mit sich selbst umgehen soll. Eher umgekehrt: Moskau wurde selbst attraktiv, versteht es, die umliegenden Länder anzulocken und sich seine eigene Einflusszone aufzubauen. Und es ist umgekehrt der Westen, und vor allem Europa, der ein Problem hat.
Stern und ein Sack Flöhe
Gegenüber den eingebildeten Riesen stehen heute ein von eigenen Problemen geplagtes Flickwerk mit den Namen Europäische Union und ein geschwächter amerikanischer Präsident. Zwischen beiden westlichen Mächten besteht in Bezug auf Russland ein wesentlicher Unterschied: Die Amerikaner haben mit Russland wirtschaftlich so wenig gemeinsam, dass sie sich in den Arm kneifen müssen, um es nicht zu vergessen. Umgekehrt sind die Europäer, vor allem dank Gas- und Erdölleitungen, wie siamesische Zwillinge mit Russland verwachsen. Für die Amerikaner stellt Moskau vor allem noch immer einen mit tausenden Nuklearsprengköpfen ausgerüsteten strategischen Spieler dar, ohne den der Schlüssel zu einem Rebus wie Iran oder Nordkorea nicht zu finden ist. Und für die Europäische Union?
Die Europäer zerbrachen sich mit Russland nicht lange den Kopf. Im Wesentlichen ist die Union eine Handelsgroßmacht, deren Außenpolitik auf Verlockungen begründet ist. Die Stabilität in seiner Umgebung gewährleistete Brüssel immer mit der Zusage von Hilfe und der Öffnung seiner Märkte im Austausch gegen wirtschaftliche und politische Reformen. Die funktionierte – die umliegenden Länder reformieren wie verrückt, und so ein Land wie die Türkei macht dies bereits seit vierzig Jahren. Russland sollte im Prinzip nicht anders sein – zwar war sich niemand sicher, was genau man einem solchen Riesen anbieten sollte, es gab aber auch Vorschläge über die Vollmitgliedschaft in der EU. Auf jeden Fall hielt es Europa für selbstverständlich, dass Russland auf einer, vielleicht auch etwas weiter liegenden Satellitenbahn um Brüssel kreisen wird. Und wenn es Probleme hätte, so kommt doch aus dem Zentrum immer ein stärkerer Gravitationsimpuls in Form einer weiteren gemeinsamen Initiative zu Hilfe.
Mit dem reichen und selbstbewussten Russland ist jedoch alles anders. Moskau wurde selbst zu einem Zentrum mit Anziehungskraft, die sich auf den Raum der ehemaligen UdSSR ausdehnt. In den Randgebieten wie der Ukraine, Weißrussland, Moldawien und Grusinien überschneiden sich die Gravitationsfelder Moskaus und Brüssel außerdem. Die neue Machtgruppierung erinnert heute am ehesten an etwas, was die Astronomen einen Doppelstern nennen: zwei riesige Körper im Gleichgewicht, die unaufhörlich umeinander kreisen und dabei gegenseitig Masse und Energie austauschen.
Russland und Europa brauchen sich nämlich gegenseitig. Vom Osten strömt öl und Gas in den Westen, in die Gegenrichtung Geld. Das Problem besteht in diesem Moment jedoch im Zusammenhalt eines der Sterne: unter dem Gesichtspunkt Moskau erinnert Europa eher als an einen festen Körper, an einen zerstrittenen Sack Flöhe. Und die Russen können darüber nicht unfroh sein.
Die einzige Antwort der Union auf das neue russische Selbstbewusstsein ist eine gemeinsame Politik gegenüber Moskau. In Brüssel weiß man das. Die Grundsätze einer gemeinsamen Energiepolitik, die in diesem Frühjahr nach der ukrainischen Gaskrise vereinbart wurden, als Russland plötzlich und mit dem Unterton politischer Erpressung, Kiew die Lieferung des strategischen Rohstoffs verweigerte, blieben jedoch nur auf dem Papier stehen. Die Mitgliedsländer pflegen auch weiterhin ihre eigenen Beziehungen zu Moskau und jedes bemüht sich, dass gerade seine Beziehungen „spezielle Beziehungen“ sind. An der Spitze die Deutschen, aber auch die anderen tun, was sie können.
Sollte die Union diese Praxis nicht überwinden, können wir eine totale Wende der Situation erleben. Vor zehn Jahren war Brüssel das einzige Anziehungszentrum. Heute kreisen zwei umeinander. Und in zehn Jahren? Präsident Putin lächelt in diesen Tagen nur.
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